PREDIGT 30. So. i. JK (A)

Ex 22,20-26 + 1 Thess 1,5c-10 + Mt 22,34-40

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Kinder, liebe Jugendliche!

Derzeit ist unser Leben Corona-bedingt von Verboten bestimmt und auch von Handlungsweisen, die geboten sind: große Menschenansammlungen meiden, Abstand halten, Hygienemaßnahmen beachten, Mund-Naseschutz tragen… 613 Ge- und Verbote kennt das Judentum. Alle 613 sind wichtig. Eines davon als das Wichtigste auszuwählen, hieße sich gegen 612 andere entscheiden. Eine gemeine Falle, die die Sadduzäer und Pharisäer Jesus stellen: „Welches Gebot im [jüdischen] Gesetz ist das wichtigste?“ (Mt 22,36). Jesus wird schon antworten, denkt ein Gesetzeslehrer – und dann haben wir ihn, dann sprechen 612 Gebote gegen ihn; 612 Gebote, die er nicht für so wichtig hält. Jesus aber geht es nicht primär um Gesetze und Paragraphen; er ist kein Paragraphenreiter. Jesus stellt ganz andere Gebote auf: ihm geht es um Beziehung, die Beziehung der Menschen zu Gott.

Diese Liebesbeziehung ist von Gott her in der Schöpfung grundgelegt: Gott liebt jeden Menschen – sogar so sehr, dass sein Sohn Mensch wird; so sehr, dass er ihn am Kreuz für uns hingibt; so sehr, dass er ihn nicht im Tod lässt, sondern uns durch die Auferstehung Hoffnung auf Erlösung und Leben schenkt. Dieses Beziehungsgeschehen, das sich in Jesus Christus ereignet und unsere Antwort herausfordert, kann nicht in Gesetze und Paragraphen gesteckt werden. Die Liebe Gottes zu uns Menschen schreit nach einer Antwort, nach Beziehung – das ist oberstes Gebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“ (Mt 22,37-40).

Mit diesem Beziehungsgebot setzt Jesus die 613 Gebote des jüdischen Gesetzes nicht außer Kraft, sondern er verweist auf das Fundament, auf dem sie ruhen: die Liebe zu Gott, zu den Mitmenschen und zu sich selbst. Die Gesetzeslehrer greifen genau da an, um Jesus zu schwächen, ihn lächerlich zu machen, mit ihm zu streiten, bis er mundtot gemacht ist. Heutzutage geschieht es überall dort, wo Menschen ausgebeutet und lieblos für eigene Zwecke ausgenutzt werden; wo die Würde der Menschen mit Füßen getreten wird, wo jeder sich selbst der Nächste ist, nur sich und seinen Vorteil sieht und das alles für selbstverständlich und gerecht hinnimmt.

Das Gebot Jesu ist anders: die Liebe zu Gott, zu den Menschen und zu sich selbst sind einander gleichwertige – gleichwichtige Beziehungen. Da geht es schon auch um mich, aber eben auch um mehr. Das Kreuzzeichen zeigt uns das anschaulich: Die Vertikale, wenn ich Stirn und Brust berühre, steht nicht nur für Herz und Verstand, sondern auch für die Verbindung von Himmel und Erde, für meine Beziehung zu Gott, mit dem ich mich beim Beten verbinde. Die Horizontal, wenn ich meine Schultern berühre, steht für meine Offenheit für meine Mitmenschen, für die Nächsten neben mir, für meine Beziehung zu Menschen nah und fern, ja weltweit, mit denen ich mich beim Beten verbinde.

Diese Beziehungen hängen an mir und sie hängen von mir ab – es hängt von mir ab, ob das Kreuz in diesen, meinen gelebten Beziehungen zu Gott, zu den Mitmenschen und zu mir selbst ein Zeichen der Liebe wird und ist – das ist das Gebot der Stunde, das ist meine Mission als Christin, als Christ: die Liebe Gottes zu leben und meinen Nächsten zu lieben wie mich selbst und so ein Zeugnis gelebten Glaubens zu geben.

In der Vergangenheit wurde im Zeichen des Kreuzes auch mit Gewalt missioniert – dieser aufgezwungene christliche Glaube widerspricht der Botschaft Jesu von der Liebe – diese Zwangsmissionierung war/ist ein Gräuel. Den christlichen Glauben anbieten, ihn vorleben mitten im Alltag – das ist gerade auch bei uns in Deutschland und in Europa notwendig, denn wir sind längst Missionsland geworden und ein Kontinent auf dem der christliche Glaube verdunstet und rapide abnimmt. „Selig, die Frieden stiften und Solidarität leben“ – da können wir als reiche Kirche gerade in Krisenländern und Kriegsgebieten viel bewirken – und wir können uns von deren Glaubensreichtum, vom Glauben an den helfenden, rettenden und liebenden Gott neu begeistern lassen – gemeinsam können wir einander helfen und füreinander in den weltweiten Anliegen für Mission und Dialog mit anderen Religionen, für Gerechtigkeit und Frieden beten. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.   Amen.