PREDIGT 1. Advent (B)

Jes 63,16b-17.19b; 64,3-7 + Mk 13,33-37 (KF)

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Kinder, liebe Jugendliche!
Haben Sie auch das Kleingedruckte gelesen? Im Kleingedruckten sind wichtige Aussagen gemacht – nicht nur bei Verträgen. Haben Sie auch das Kleingedruckte gelesen? – Es stand unter dem eben gesungenen Lied „O Heiland, reiß die Himmel auf“ (GL 231/1 mit Bezug auf Jes 63,19b).
Der Text von diesem Adventslied wird Friedrich Spee zugeschrieben und auf das Jahr 1622 datiert. In diesem Kleingedruckten stecken wichtige In-formationen: Das Lied – es ist fast 400 Jahre alt – nimmt Bezug auf den historischen Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) – auf eine Zeit der Entbehrung, Seuchen und Hungersnöte, von Kämpfen mit vie-len Toten. Und Friedrich Spee war der größte innerkirchliche Kritiker der Hexenprozesse – Frauen (und auch Männern) wurde der Prozess gemacht, weil sie angeblich mit dem Teufel im Bund waren, sich so versündigt hat-ten und somit Schuld waren an Hunger, Not, Krankheit und Krieg – genau dagegen wendet sich Friedrich Spee. Im Kleingedruckten ist der historische Hintergrund für sein klagendes Adventslied greifbar. Es ist kein einlullen-den Adventslied wie viele andere, die wir derzeit hören – nein, es rüttelt wach, es klagt ein, es klagt das Eingreifen Gottes ein. Spee flieht nicht vor den Herausforderungen seiner Zeit, und er flieht auch nicht in simple Ant-worten. „O Heiland, reiß die Himmel auf“ verleiht Spees Enttäuschung vom Verhalten vieler Menschen in der damaligen Situation eine Stimme und ist zugleich ein Sehnsuchtsruf nach Gottes Gerechtigkeit.
Haben Sie auch das Kleingedruckte gelesen? Wir können dieses Lied jetzt historisch einordnen – und dass, obwohl der Text keine konkreten Zeitbezüge hat; es ist „zeitlos“ und passt auch in unsere Zeit – in die Zeit von Corona. Ein Virus, das bedrängt und Ängste schürt; ein Virus, das Leben bedroht und viele Menschenleben hinwegrafft. Die Suche nach vermeidlichen Schuldigen dafür und Verschwörungstheorien gab es nicht nur vor 400 Jahren sondern die gibt es auch heute!
Auch wir sollen nicht vor der Realität fliehen, nicht vor der Gefahr, die dieses Virus mit sich bringt, es nicht verharmlosen oder es gar leugnen. Es gilt dieser Gefährdung des Lebens und den damit verbundenen Ängsten ins Auge zu blicken – dieser Aspekt ist wesentlich und auch aus der Angsttherapie bekannt. Die Angst vor der Ansteckung durch Begegnungen und zu engen Kontakt ist uns bekannt – und sie führt zu Kontaktbeschrän-kung, Einsamkeit und sozialer Isolation. Diese Angst hat viele Gesichter: die Angst vor einer Ansteckung mit Corona, dass ich mich anstecke oder (für viele noch schlimmer) dass ich andere infiziere – die Angst vor Qua-rantäne und damit der Existenzgefährdung von Familien und Betrieben – die Angst vor Kita- und Schulschließungen – die Angst, dass eine Infekti-on als Nachlässigkeit und Stigmatisierung ausgelegt werden könnte.
In dieser sich verbreitenden Angst klingt auch die Sehnsucht nach einem „offenen Himmel“, nach dem „frischen Grün“ mitten im totbringenden und eiskalten Winter, nach wärmender Sonne und einem leuchtenden Hoff-nungsstern an, die Friedrich Spee als Sehnsuchtsbilder der Hoffnung und des Gottvertrauens in seinem Adventslied besingt. Der Advent schafft kei-ne „heile Welt“; er wischt die Angst nicht weg und überdudelt sie nicht mit schnulzigen Liedern – der Advent ermutigt dazu „wach zu sein“ (vgl. Mk 13,33.37); er ermutigt dazu, genau hinzuhören und hinzuschauen; er ermutigt dazu, sich nicht lähmen zu lassen von der Angst, sondern das Not-wendige zu tun. Ob es da mit dem Warten auf den Impfstoff schon getan ist?
Sicher ist der erwartete Impfstoff ein wichtiges Hoffnungszeichen – aber hat uns der Advent nicht mehr zu bieten? Was/Wen erwarten wir?
Die erste Kerze am Adventskranz brennt – ein Hoffnungslicht. Zeichen da-für, dass wir Gott (noch) erwarten und sein Eingreifen; Zeichen dafür, dass wir die Hoffnung nicht aufgegeben haben, sondern dass dieses Hoffnungs-licht in den kommenden Wochen mehr werden wird; Zeichen dafür, dass wir uns nach Licht und Leben sehnen: „O Heiland, reiß die Himmel auf!“ Gott verlässt seinen Himmel. ER bleibt und ist uns nicht fern. ER wird Mensch in Jesus Christus; das feiern wir in dieser Zeit: Advent – Ankunft. Dieser Jesus Christus ist es, der uns die Angst nehmen kann, ER, der uns Hoffnung macht und sagt: „In der Welt habt ihr Angst; aber habt Mut, ich habe die Welt [der Angst] überwunden“ (Joh 16,33; eigene Übers.). AMEN.

– zwei zugehörigen Liedlinks zu „O Heiland reiß den Himmel auf“:
    * klassisch: https://www.youtube.com/watch?v=prhNnot2Uc8
    * modern interpretiert: https://www.youtube.com/watch?v=w4SJ5jC2Npw